Zum Inhalt springen

Schreibstil: Zwischen Kunst und Unterhaltung

Beitragsbild Schreibstil

In diesem Blogartikel wollen wir uns die stilistischen Unterschiede zwischen klassischer und moderner Literatur ansehen und diskutieren, was zeitgenössische Autoren daraus lernen können. Wenn sie noch wollen.

Jeder Autor hat seinen eigenen Schreibstil. Manche haben einen mehr oder weniger einzigartigen, zumindest wiedererkennbaren Stil, den Leser schätzen. Sie verwenden vielleicht bestimmte Arten von Metaphern. Bestimmte Phrasen oder Begriffe. Haben eine bestimmte Art, Dialoge zu konstruieren.

Allerdings gibt es im Hinblick auf den Schreibstil nicht nur individuelle Unterschiede, sondern auch Trends.

Trend
So ungefähr könnte ein Trend aussehen. In diesem Fall wäre es eine Visualisierung der Häufigkeit moderner Merkmale in Literatur.

Vergleicht man klassische und moderne Literatur, stellt man eine ganze Reihe von stilistischen Kontrasten fest. Manches, was früher ganz normal war, ist heute selten geworden – und umgekehrt.

Ist das gut? Ist das schlecht? Was können wir als Autoren heute noch von Klassikern lernen, was haben wir Gott sei Dank hinter uns gelassen? Und wie sieht es aus Leserperspektive aus? Ist der moderne Stil tatsächlich ein Gewinn für den Leser? Oder sind Autoren und Verlage auf dem Holzweg?

Damit wollen wir uns in diesem Blogartikel beschäftigen.

Klassischer Schreibstil: Anspruch und Ästhetik

Beginnen wir mit den Klassikern.

Was kommt einem in den Sinn, wenn man an Bücher aus irgendeinem vergangenen Jahrhundert denkt, die man für die Schule lesen, im Unterricht diskutieren und in Klausuren analysieren musste?

Klar, die dort dargestellte Welt hatte teilweise sehr wenig mit unserem Alltag zu tun. Und auch wenn manche Themen zeitlos und für Menschen früher wie heute relevant sein mögen, gab es in diesen Büchern doch so einiges, was uns nach den Standards des 21. Jahrhunderts reichlich seltsam oder sogar albern vorkam.

Darüber hinaus mussten wir wohl feststellen, dass man früher ganz anders geschrieben hat. Nicht nur im Hinblick auf das Vokabular, sondern auch syntaktisch unterscheidet sich der durchschnittliche Klassiker stark von den meisten modernen Romanen. Einige Sätze gingen über eine halbe Seite! Eine ganze Seite? Ein ganzes Kapitel? War ein Roman aus einem Satz möglich? Autoren schienen im 17. bis frühen 19. Jahrhundert regelrecht einen Wettbewerb daraus gemacht zu haben, wer am längsten durchhält, ohne einen Punkt zu setzen. Beispiele: Clarissa von Samuel Richardson oder, wenn auch etwas später, Ulysses von James Joyce.

Samuel Richardson
Samuel Richardson.
James Joyce
James Joyce.

War das gut? Ich würde sagen: Nein. Weder für die Rezipienten noch für die Autoren, wenn Letztere das Konstrukt später noch einmal lesen oder sogar überarbeiten wollten. Eine sprachliche Leistung war es, klar, aber doch eher Sport als Kunst. Beeindruckend, aber nicht bewegend.

Zu dieser Einsicht kamen dann offenbar die meisten, denn mit der Zeit wandelte sich der vorherrschende Stil. Und zwar gründlich.

Moderner Schreibstil: Effizienz und Funktionalität

Wenn ich den modernen Schreibstil in zwei Adjektiven beschreiben wollte, wären das diese: »effizient« und »funktional«.

Praktisch alle Writing Blogs sprechen die Empfehlung aus, bei der Überarbeitung eines Romans a) unnötige Wörter (vor allem einige Adjektive und Füllwörter) und Worte (möglicherweise ganze Szenen) zu streichen und b) jeden Aspekt der Geschichte der Charakterentwicklung und der Spannungskurve zu unterwerfen.

Die Sequenz ist ja ganz interessant, aber zeigt sie eine neue Facette des Charakters? Nein? Weg damit!

Ist dieser Nebenschauplatz entscheidend für den Plot? Nur so mittel? Na ja, gut, dann being es irgendwie in einem Nebensatz unter, aber mehr auch nicht!

Diese beiden Nebenfiguren in Kapitel 10, ja, die Dialoge sind ulkig, aber kann das nicht auch eine Figur sein? Fass das mal irgendwie zusammen!

Es geht allzu oft um eine Art Streamlining der Geschichte. Ein Kondensieren. Lean Writing, sozusagen.

Simplify
Sachen zu vereinfachen, klingt ja eigentlich erst mal sinnvoll. Bei Kunst ist das aber nicht immer der beste Weg.

Fast könnte hier der Eindruck entstehen, dass die meisten Leser gar nicht gerne lesen und dass die größte Gefahr darin besteht, als Autor die Zeit des Rezipienten zu verschwenden. Was, wie ich zugeben muss, durchaus wahr sein kann, wenn ein spannender Plot das Einzige ist, was der Roman zu bieten hat, und der Schreibstil, die Dynamik zwischen den Figuren oder philosophische Ideen keine Rolle spielen.

Versteht mich nicht falsch: Ich weiß es sehr zu schätzen, wenn komplexe Sachverhalte oder unergründliche Empfindungen in wenigen Worten dargestellt werden. Autoren, denen das gelingt, verdienen größten Respekt. Auch Pointen können sehr wirkungsvoll sein, gerade weil sie (per Definition) extrem kurz sind.

Allerdings kann man es mit der Fokussierung aufs Essenzielle auch übertreiben. Oder schlicht vergessen, dass nicht nur Informationen vermittelt werden wollen – wer macht was, was denkt er oder sie sich dabei –, sondern auch die Sprache selbst ein wichtiger Aspekt von Literatur sein kann und sollte.

Wir sollten über das vermeintliche Zuviel an Worten allein um der Ästhetik willen also unbedingt einmal sprechen!

Haben wir zu viel verloren?

Ja, stimmt, wir haben wahrscheinlich nicht wirklich etwas »verloren«, sondern es eher aus freien Stücken aufgegeben. Jedenfalls, was den durchschnittlichen Autor und den durchschnittlichen Leser betrifft.

Wie in unzähligen Bereichen des Lebens scheint es eben auch in der Literatur so zu sein, dass man sich am Verhalten und an den Präferenzen der Massen orientiert. Was meist bedeutet, dass das Niveau sinkt. Wenn Denken und Sprache miteinander verknüpft sind, wirft das kein gutes Licht auf unsere Gesellschaft. (Auf die PISA-Studien und die immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne muss ich hier wohl nicht eingehen. Wir wissen alle Bescheid.)

Es geht nur um die Kohle

Im Hinblick auf den Schreibstil von Romanen haben sich die meisten Verlage – aus rein finanziellen Gründen – dazu entschlossen, so manchen Funken Anspruch im Keim zu ersticken und Bücher zu veröffentlichen, die von möglichst vielen gelesen werden (können). Die Texte werden dabei vereinfacht, bis von der Sprachfertigkeit des Autors, die er, wenn er könnte, durchaus hier und da einmal unter Beweis stellen würde, wenn man ihn ließe, nicht mehr viel zu erkennen ist.

Geld
Kohle. Nur darum geht’s.

Ob das auch einen Beitrag daran hat, dass Hinz und Kunz meinen, einen Roman schreiben und selbst veröffentlichen zu müssen? Es sieht ja ganz leicht aus, wenn es gar keine komplexen Sätze, schönen Beschreibungen oder unkonventionellen Ideen mehr braucht, um einen Bestseller zu produzieren. Wenn man, wie es scheint, nicht unbedingt Talent braucht, um erfolgreich zu sein, sondern nur den Regeln folgen und ein bisschen Glück haben muss.

Es ist ein Trauerspiel

Ich persönlich finde, dass wir durchaus einigen literarischen Elementen nachzutrauern haben, die auf dem Weg von der Klassik in die Moderne irgendwie abhandengekommen sind. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich damit nicht allein bin. Mir ist klar, dass viele Leser von sich selbst sagen, dass sie nur seichte Unterhaltung wollen. Ich denke – oder hoffe – jedoch, dass es immer noch eine große Gruppe von Lesern gibt, die sich ein wenig bevormundet fühlen von Verlagen, die ihnen nichts mehr zutrauen, und verraten von Autoren, die gar nicht mehr versuchen, auch auf sprachlicher Ebene etwas einigermaßen Beeindruckendes abzuliefern.

Modern Business Woman At Workplace Tired And Worried In Office
Frustrierte Autorin. Sie würde gern ihr ganzes Können zeigen, aber findet sie dann eine Agentur oder einen Verlag?

Wie viele Autoren glauben, dass Literatur aus Trendgenres möglichst simpel geschrieben sein muss? Wie viele Verlage lehnen Autoren ab, die sich noch Mühe geben mit ihren Formulierungen, die für die Klugen und nicht für die Dümmsten untern den Lesern schreiben?

‘I want you to get mad!’ Kennt ihr das? Kam mir gerade in den Sinn.

Egal.

Es ist noch nicht alles verloren

Die Frage ist nun, wie man’s als Autor besser machen kann. Denn das kann man ja! Man kann auch heute noch Romane schreiben, ohne dabei die Selbstachtung zu verlieren. Romane schreiben und dabei den Leser respektieren.

Wie könntet ihr also zur Avantgarde gehören, die Verlagen zeigt, dass man auch mit anspruchsvoller Literatur noch genügend Leser findet, um nicht nur Druck- und Marketingkosten zu decken, sondern vielleicht sogar einen Trend hin zu einer sprachlich nicht völlig wertlosen Literatur zu begründen?

Beautiful Asian Young Woman Using Her Digital Tablet In Front Of Seine River In Paris.
So nachdenklich, aber irgendwie auch zufrieden könnten eure Leser aussehen, wenn ihr ein ein gutes Buch schreibt anstelle eines kommerziell erfolgreichen.

Hier sind meine Gedanken dazu …

Besser schreiben in 2024

Zunächst einmal möchte ich eines klarstellen: Auch wenn ich kritisch in Bezug auf Writing Blogs bin und darin eine Gefahr sehe, dass angehenden Autoren das kreative und experimentierfreudige Schreiben ausgetrieben wird zugunsten eines »Schreibens nach Schema F«, sind manche Tipps nicht verkehrt.

Beispielsweise ist es durchaus richtig, dass man auf manche Wörter – Füllwörter – verzichten kann. Die Stilanalyse von Papyrus Autor ist in dieser Hinsicht sehr praktisch (auch wenn ich persönlich mittlerweile ziemlich gut darin bin, »effizient« zu schreiben).

Photo Of Smiling Bearded Man Writing With Laptop While Working In Cafe Indoors
Hier freut sich ein Autor, weil er alle Regeln befolgt. Er ahnt nicht, dass sein Roman dadurch eigentlich viel schlechter wird!

Auch richtig ist die Empfehlung, verständlich zu schreiben. Hier allerdings stellt sich die Frage nach der Definition: Was ist »verständlich«, was ist »so simplifiziert, dass es an Leserbeleidigung grenzt«?

Nachdem ich eine Weile über Schreibtipps und Schreibstile nachgedacht habe, komme ich auf folgende 10 Empfehlungen, die ich euch gern mitgeben würde, wenn ihr vorhabt oder dabei seid, einen Roman zu verfassen:

Wortschatz

Verwendet ruhig mal Wörter, von denen ihr wisst, dass viele Leser sie wahrscheinlich nachschlagen müssen. Übertreibt es aber nicht. Wenn es einen einfacheren Begriff gibt, der völlig gleichbedeutend ist und auch im Hinblick auf Wortspiele keinen Verlust bedeutet, nehmt den.

Interpunktion

Fürchtet euch nicht vor Gedankenstrichen und Semikolons! Aber setzt sie sinnvoll ein. Ein Gedankenstrich kann für einen Einschub genutzt werden, der sich sonst nur schwierig einfügen ließe. Ein Semikolon verbindet zwei Hauptsätze, die thematisch so stark zusammenhängen, dass ein Punkt eine zu starke Trennung darstellt.

Beschreibungen

Beschreibt Dinge so ästhetisch wie möglich, aber gleichzeitig so effizient wie möglich. Deckt alle relevanten Sinne ab, aber verdichtet die Eindrücke auf ihre jeweilige Essenz.

Rhetorische Stilmittel

Erinnert ihr euch noch an die rhetorischen Stilmittel, die ihr im Unterricht gelernt und in der Gedichtanalyse identifiziert und interpretiert habt? Falls nicht, solltet ihr euer Wissen diesbezüglich auffrischen. Rhetorische Stilmittel sind cool und wirkungsvoll. Euer Lehrer hatte nicht immer Recht, wenn er behauptet hat, der Autor hätte dieses oder jenes mit Alliterationen, Parallelismen oder Chiasmen betonen wollen, aber als jemand, der sich dieser Kniffe regelmäßig bedient, kann ich sagen: Oft genug war es wohl tatsächlich der Fall!

Balance der narrativen Aspekte

Findet eine Balance zwischen Beschreibungen, Handlung und Dialog. Meines Erachtens ist ein etwa gleicher Anteil dieser drei Aspekte für die meisten Romane genau das Richtige.

Charakterentwicklung

… ist überbewertet. Schon mal einen Roman von Houellebecq oder Faldbakken gelesen? Das sind absolute Meisterwerke, aber ich wäre überrascht, wenn jemand irgendeine Form von Charakterentwicklung darin aufzeigen könnte.

Plot

… ist ebenfalls überbewertet. Einige der spannendsten Romane haben keinen nennenswerten Plot, sondern leben von den dargelegten Ideen. Aus meiner Sicht ist das völlig in Ordnung. Wer einen Plot braucht, um einen Roman spannend zu finden, sollte an sich arbeiten.

Nebenthemen

Was ihr schreibt, muss nicht immer dem Plot dienen (wenn ihr einen habt). Schafft ruhig kleine Nebenschauplätze, auch wenn sie nicht auf die Kerngeschichte einzahlen, sondern praktisch Dekoration sind. Solange sie dem Leser gefallen, ist das Ziel doch erreicht?

Provokation

Provoziert ordentlich! Ihr müsst kein Enfant terrible werden und alle Tabus abhaken, die euch einfallen. Überlegt aber, ob eine Selbstzensur wirklich sein muss oder ob euren Lesern die eine oder andere krasse Szene oder zynische Pointe nicht vielleicht gefallen würde.

Hier findet ihr viele Beispiele, wie das geht.

Experimente

Macht mal was anders! Traut euch, »komisch« zu schreiben! Klar, ab und zu führen Experimente zu Unfällen. Ihr könntet jedoch auch versehentlich auf die alchemistische Formel zur Goldherstellung stoßen, bildlich gesprochen. Lasst im Zweifelsfall eure Betaleser entscheiden, bevor ihr eine besonders bizarre Passage löscht. Vielleicht ist der Effekt an dieser Stelle eurer Geschichte genau richtig?

***

Wie seht ihr das: Nehmt ihr ebenfalls ein Spannungsfeld zwischen avantgardistischem Anspruch und unterhalterischem Handwerk wahr? Seid ihr, bemessen an eurem Schreibstil, eher Künstler oder eher Entertainer? Hat euch dieser Artikel inspiriert, mal etwas Neues auszuprobieren?

Bonusfrage an diejenigen unter euch, die meine Romane gelesen haben: Findet ihr, dass es darin gelungen ist, eine Balance zwischen klassischem und modernem Stil zu finden? Oder ist Zeichen von Herbst vielleicht etwas zu klassisch, Der Künstler und die Assassin vielleicht etwas zu modern?

Schreibe einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert