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Sprachwandel: Fehler und Fortschritt

Beitragsbild Sprachwandel

Die Sprache verkommt. Alles wird vereinfacht und verballhornt; die Leute können nicht mehr sprechen und nicht mehr schreiben. Oder? In diesem Artikel wollen wir uns genauer ansehen, wie Sprachwandel funktioniert – und wann er gar nicht so verkehrt ist.

Fehler in Texten können ziemlich peinlich sein, keine Frage. Besonders im Beruf oder im Buch (falls das nicht zufällig das Gleiche bedeutet). Doch die Regeln von Rechtschreibung und Grammatik sind nicht in Stein gemeißelt. Sie sind das Produkt kontinuierlicher Entwicklung. Sprachwandel nennt man das. Neuerungen in der Sprache erlauben es uns, die Welt um uns herum nur präziser zu beschreiben und besser zu reflektieren.

In diesem Blogartikel wird euch euer Lieblingsautor, der zufällig auch Absolvent eines Germanistik-Studiums ist und seine Bachelorarbeit über die Grammatikalisierung, die zur Normalisierung führt) der rheinischen Verlaufsform (dazu gleich mehr) geschrieben hat, erklären, warum Sprachwandel nur manchmal so doof ist, wie immer alle sagen.

Was ist Sprachwandel?

Als Sprachwandel bezeichnet man den natürlichen Prozess, in dem Sprache sich durch ihren Gebrauch langsam, aber stetig weiterentwickelt. Sprachwandel spiegelt Veränderungen in Gesellschaft, Kultur und Technologie wider und ermöglicht es uns, neue Phänomene zu benennen und unsere Kommunikation zu verfeinern.

Die Ursachen des Sprachwandels sind vielfältig. Oft nutzen sich Wörter oder Formulierungen mit der Zeit ab – werden verkürzt oder vereinfacht –, oder Sprecher finden Möglichkeiten, Sachverhalte prägnanter auszudrücken. Auch der Kontakt mit anderen Sprachen kann großen Einfluss auf die eigene Sprache haben, wenn Begriffe oder Konstruktionen adaptiert werden, wo eigene fehlen oder als umständlicher, unpräziser oder einfach als weniger ästhetisch wahrgenommen werden.

Diskussion
Je mehr hitzige Diskussionen es gibt, desto mehr wird gesprochen, und desto mehr Sprachwandel findet statt. Also, theoretisch. Irgendwie so funktioniert es jedenfalls.

Eine Form von Sprachwandel ist die Grammatikalisierung von Konstruktionen, das heißt: die Integration in die Grammatik und somit die Normalisierung. Ein gutes Beispiel dafür ist die rheinische Verlaufsform, auch bekannt als am-Konstruktion (»am Schreiben/schreiben sein«). Diese Konstruktion erlaubt es, Handlungen ähnlich wie die Englische »going-to-Future« (present progressive) als gerade stattfindend zu beschreiben. Dies bringt eine zeitliche Dimension in die Sprache ein, die das Deutsche in dieser Effizienz sonst nicht ermöglicht. Man müsste beispielsweise das Wort »gerade« verwenden, um einer Formulierung im Präsens den progressiven Aspekt hinzuzufügen. Ursprünglich als lokative Information im Dialekt verankert, findet die am-Konstruktion immer öfter auch im Standarddeutschen Anwendung. Die fortschreitende Grammatikalisierung zeigt sich der Schreibweise des zweiten Elements, das sich von einer großgeschriebenen Ortsangabe (»am Schreibtisch sein«) erst zum nominalisierten (»am Schreiben sein«), dann zum gewöhnlichen Verb (»am schreiben sein«) zu entwickeln scheint.

Ein Umgang mit Sprache, der nicht regelkonform ist, muss also kein Fehler sein. Er kann dazu beitragen, unsere Sprache an die sich ständig verändernde Welt anzupassen oder unsere Ausdrucksfähigkeit zu erweitern. 

Durch die Analyse des Sprachwandels können wir nicht nur die Entwicklung von Sprache – unserer eigenen, aber auch fremder Sprachen – besser verstehen, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen Sprache und Gesellschaft erforschen.

Die Rolle des Dudens

Der Duden wird oft als das Standardwerk der deutschen Rechtschreibung betrachtet – und spielt deshalb eine besondere Rolle im Kontext des Sprachwandels. Der Duden ist jedoch nicht, wie oft angenommen, ein präskriptives, sondern ein deskriptives Nachschlagewerk: Statt Regeln vorzuschreiben, beschreibt der Duden diese, spiegelt also lediglich den aktuellen Gebrauch der Sprache wider und dokumentiert diesen für das breite Publikum.

In der Praxis bedeutet dies, dass die Redaktion des Dudens den tatsächlichen Sprachgebrauch beobachtet. Neue Wörter und Ausdrucksweisen, die sich in der Alltagssprache etablieren, finden nach einer gewissen Zeit den Weg in das Wörterbuch. Auch Änderungen in der Rechtschreibung oder Grammatik, die durch den Sprachgebrauch entstehen, werden im Duden festgehalten.

Dabei orientieren sich die Duden-Redakteure an verschiedenen Quellen: Sie analysieren Texte aus Print- und Online-Medien, führen Umfragen durch und berücksichtigen zuweilen auch die Ergebnisse sprachwissenschaftlicher Forschung. Der Duden ist ein lebendiges Werk – mit, wie bekannt sein dürfte, regelmäßigen Neuausgaben –, das die jeweils aktuelle Sprachrealität abbildet und zugleich eine wichtige Ressource für jene bietet, die unsere deutsche Sprache in der gegenwärtigen(!) Form verstehen und korrekt verwenden wollen.

Lexikon
Das ist nicht der Duden. Der ist gelb. So ungefähr sieht es jedoch aus, wenn jemand dir erzählt, dass der Duden da aber was anderes sagt.

Die Beziehung zwischen dem Sprachgebrauch und den Duden-Empfehlungen ist also eine dynamische: Die Sprachgemeinschaft beeinflusst durch ihren Gebrauch die Inhalte des Dudens, der Duden wiederum bietet eine Orientierung für den korrekten Sprachgebrauch und hilft dabei, ein gewisses Maß an Einheitlichkeit, vor allem in der Schriftsprache, zu gewährleisten. Dieses Wechselspiel ermöglicht es, dass die deutsche Sprache sich weiterentwickelt, ohne dabei an Verständlichkeit zu verlieren.

In diesem Sinne ist der Duden nicht der strenge Wächter über eine unveränderliche deutsche Sprache, sondern eher ein Begleiter des Sprachwandels, der dabei hilft, den Sprachgebrauch in all seiner Vielfalt zu dokumentieren und zu vermitteln.

Jemandem, der bei einer häufig gehörten oder gelesenen Abweichung vom Standarddeutschen mit erhobenem Zeigefinger auf den Duden verweist, kannst du also entgegnen, dass durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, das vermeintlich Falsche in der nächsten Duden-Ausgabe wiederzufinden. Das »Regelwerk« könnte den »Fehler« schon bald als normalen sprachlichen Ausdruck aufgenommen haben.

Gegen Sprachwandel?

Der Widerstand gegen den Sprachwandel ist ein Phänomen, das vielleicht so alt ist wie die Sprache selbst. Oftmals ist er durch einen Wunsch nach Beständigkeit oder durch die Befürchtung motiviert, die Sprache würde verfallen, weil sie beispielsweise zu sehr vereinfacht wird oder neue Konstruktionen oder Begriffe unnötig, unsinnig oder unästhetisch erscheinen. Insbesondere Entlehnungen aus anderen Sprachen – etwa Anglizismen – oder Kreationen der Jugendsprache werden oft kritisch betrachtet.

Jugend
Das sind die jungen Leute, die unsere schöne Sprache verhunzen.

Doch Sprachwandel ist eine unaufhaltsame Kraft, angetrieben durch die ständige Entwicklung der Gesellschaft. Jede Generation bringt ihre Ideen in die Sprache ein, die in gewissem Maße den Zeitgeist widerspiegeln (und zuweilen sogar formen). Manche Veränderungen sind subtil und vielleicht erst auf lange Sicht in all ihren Auswirkungen begreifbar, andere können sehr deutlich und tiefgreifend sein.

Mann Lehnt Den Sprachwandel Ab
Dieser Mann ist gegen Sprachwandel. Manchmal hat er damit Recht. Meistens aber nicht.

Sich gegen den Sprachwandel zu stellen, ist meist ein aussichtsloser Kampf. Die Sprache wird sich weiterentwickeln, unabhängig von den Bemühungen Einzelner, sie in ihrem aktuellen Stadium zu konservieren. Der Prozess kann zwar durch Bildung und bewusste Sprachpflege beeinflusst, jedoch in den meisten Fällen nicht gänzlich aufgehalten werden. Die Anerkennung des Sprachwandels als natürliche Entwicklung erlaubt es uns, die Schönheit zu sehen und die Möglichkeiten zu nutzen, die in dieser ständigen Transformation liegen.

Sprache
Das erste Wort, das ihr seht, beschreibt euer Jahr 2024!

Entscheidend ist jedoch, dass echter Sprachwandel ein natürlicher Prozess ist. Versuche, die Sprache auf Basis ideologischer Überzeugungen zu verändern, sollten weiterhin kritisch betrachtet werden. Wenn Sprecher sich entscheiden, bestimmte Begriffe zu verwenden oder nicht mehr zu verwenden, ist das Sprachwandel. Wenn Sprecher dazu genötigt werden, ist das eine Bevormundung, die zu Recht auf Widerstand stößt.

Sieh’s doch mal so

Die Sprache ist ein dynamisches Gefüge, das sich kontinuierlich wandelt und unsere kollektive Erfahrung widerspiegelt. Ein flexibler, aber reflektierter Umgang mit Sprache lässt uns ihre Grenzen kreativ erweitern und bereichert unsere Kommunikation.

Sprachwandel eröffnet Möglichkeiten für eine bewusstere und kreativere Nutzung der Sprache, die sowohl die Tradition ehrt als auch die Innovation begrüßt.

Ein gut entwickeltes Sprachgefühl ist hierzu natürlich Voraussetzung. Wir wollen die konventionellen Regeln verstehen und anwenden, aber auch erkennen, wann und warum eine Abweichung wirkungsvoll sein kann.

Ein interessantes Beispiel hierfür mag die Wendung »wimmeln von« sein. Für gewöhnlich würde man etwa sagen, ein Platz »wimmelt von« Menschen. Doch auch der Ausdruck »wimmeln vor« findet gelegentlich Verwendung und kann eine zusätzliche Bedeutungsnuance einfangen: Die Präposition »vor« suggeriert eine Art Überforderung, eine Überfülle, die beinahe so etwas wie eine Barriere bildet – ähnlich wie im Ausdruck »den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen«. In Zeichen von Herbst verwende ich den Ausdruck mit »vor« statt »von« gleich im ersten Satz:

Je nachdem, wie man die Welt betrachtete, wimmelte sie entweder vor gewöhnlichen oder vor merkwürdigen Menschen.

Von dem nicht sehr wohlwollenden Redakteur einer lokalen Zeitung wurde mir dies – nicht in einer Rezension, sondern in einer E-Mail! – als schriftstellerische Verfehlung vorgeworfen. Der werte Herr hatte offenbar keinen Sinn für diese Art von Kreativität. Ich hingegen würde den Ausdruck in dem betreffenden Kontext jederzeit wieder so verwenden.

Gerade als Autor sollte man, wie ich finde, jedes Mittel nutzen, Sachverhalte noch deutlicher darzustellen, und nicht selten ist dazu der gezielte Regelbruch, der auffällt und den Leser gerade durch seine Originalität beeindruckt, der beste Weg. Ich finde, es versteht sich von selbst, dass es nicht nur dem Lyriker erlaubt sein sollte, mit Worten und Konstruktionen zu spielen, sondern auch dem Novellisten. Und jedem anderen Texter.

Fazit

Sprachwandel ist ein natürlicher und unaufhaltsamer Prozess, der die kontinuierliche Entwicklung der Gesellschaft widerspiegelt. Während Veränderungen in der Sprache oftmals auf Widerstand stoßen, sind sie tatsächlich ein Zeichen von Fortschritt und Kreativität. Eine Sprache, die sich nicht wandelt, wäre dem Untergang geweiht, da sie neue Phänomene nicht mehr effizient abbilden kann – ganz zu schweigen davon, dass eine solche Sprache, wenn es sie gäbe, ein sehr schlechtes Licht auf die Wortgewandtheit ihrer Sprecher werfen würde.

Entscheidend ist jedoch, den Unterschied zwischen Sprachverfall und sinnvoller Weiterentwicklung zu erkennen. Der bewusste Umgang mit Sprache erlaubt es uns, das bloße Befolgen von Regeln zu transzendieren und die Ausdruckskraft unserer schönen Sprache voll zu entfalten, während ein nachlässiger Umgang tatsächlich dazu führt, dass sprachliche Finessen in Vergessenheit geraten. 

Insbesondere Künstler tun gut daran, nicht nur offen für Veränderungen zu sein, sondern diese selbst mitzugestalten. Texter sollten sich dazu ermuntert fühlen, auf originelle Weise mit Sprache umzugehen, wo es wirkungsvoll scheint.

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Was sind eure Beispiele für Sprachwandel, der euch – trotz allem – aufregt? Oder habt ihr Begriffe oder Konstruktionen, die (noch) nicht standardsprachlich sind, die ihr aber gern recht bald im Duden sehen würdet?

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