“Kreativität” – hat angeblich jeder, wird aber trotzdem verzweifelt gesucht. Schauen wir uns das doch mal genauer an: Was bedeutet es wirklich, kreativ zu sein? Welche Formen von Kreativität gibt es? Und was haben Mainstream und KI damit zu tun?
Der Begriff der Kreativität taucht heute überall auf – zum Beispiel in Firmenphilosophien, Stellenanzeigen, Werbeslogans und Social-Media-Profilen. Kaum ein Konzept wird so oft beschworen – und gleichzeitig so selten verstanden.
Also, was bedeutet das eigentlich, “Kreativität”? Handelt es sich um ein angeborenes Talent? Eine erlernbare Technik? Eine Nebenerscheinung von Intelligenz oder besonders komplexen Denkmustern? Eine psychische Anomalie, die ab und zu nützlich sein kann?
Um diese und einige weitere Fragen geht’s in diesem Blogartikel, den ich übrigens schon länger mal schreiben wollte.
Was ist Kreativität?
Beginnen wollen wir mit einigen Definitionsversuchen. Denn es scheint mir, wie gesagt, gar nicht so einfach, genau zu bestimmen, was Kreativität eigentlich ist – und was nicht.
Im Kern geht es bei der Kreativität wohl um die Fähigkeit, etwas Neues hervorzubringen – eben zu kreieren. Darauf können wir uns sicherlich einigen.
Aber natürlich darf es nicht einfach irgendetwas Neues sein, oder? Es muss, denke ich, gleichzeitig a) neu, b) überraschend und c) nützlich sein.
Wo wäre das der Fall?
Kreativität = Kunst schaffen?
Die meisten Menschen denken beim Begriff der Kreativität sicherlich an Kunst: Malerei, Musik, Literatur, Fotografie, Film, Spieleentwicklung und andere, heutzutage vielleicht weniger populäre Formen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wir die drei eben genannten Kriterien berücksichtigen.

Besonders kreative Menschen müssen dabei nicht immer grenzwahnsinnige Genies sein – viel öfter sind sie exzellente Beobachter, unermüdliche Bastler oder einfach überdurchschnittliche freie Geister.
Ja, tatsächlich ließe sich sogar argumentieren, dass kreative Energie sämtliche Lebensbereiche durchzieht – von der Wissenschaft über die Technik bis hin zum Unternehmertum. Selbst in der Politik können Menschen zuweilen kreativ werden, meint ihr nicht? Jeder, so könnte man behaupten, der eine Lösung für ein Problem findet, ist doch irgendwie “kreativ”.
So unbefriedigend dieses Schlusswort sein mag: Am Ende ist es vielleicht nur eine Frage der Einstellung, wie eng oder weit man Kreativität definieren möchte.
Drei Arten von Kreativität
Kommen wir von der Frage, wo sich Kreativität finden lässt, nun zu der Frage, wie Kreativität eigentlich aussieht. Denn egal, wo man in Bezug auf die Lebensbereiche, in denen Menschen kreativ sein können, die Grenze zieht, sind drei unterschiedliche Ausprägungen von Kreativität erkennbar:
- explorativ,
- kombinatorisch und
- transformativ.
Bei explorativer Kreativität findet man, grob gesagt, in einem bestehenden System etwas Neues – wenn etwa ein Musiker mit bekannten Harmonien einen originellen Song schreibt (den Four Chords Song von The Axis of Awesome kennt ihr, nehme ich an).
Kombinatorische Kreativität bedeutet, bekannte Elemente auf neue Weise zu kombinieren – wie bei einem Remix, bei dem Lyrics und Samples aus zwei verschiedenen populären Songs stammen. Es ist, wenn wir mal ehrlich sind, auch das Prinzip, das hinter vielen sogenannten “Innovationen” steckt: Ganz so neu sind diese oft gar nicht. So handelte es sich beispielsweise auch beim iPhone nur um eine Kombination bereits existierender Technologien.
Bei der dritten und letzten Ausprägung von Kreativität, der transformativen Kreativität, werden die Regeln selbst verändert. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand ein völlig neues Filmgenre oder eine völlig neue Produktkategorie erfindet (auch wenn hier die Grenzen zwischen kombinatorischer und transformativer Kreativität fließend sind). Durch transformative Kreativität können wirklich verrückte Dinge entstehen – nicht selten so verrückt, dass sie nur bei wenigen Rezipienten gut ankommen.
Kreativität ist nichts Mystisches
Zum Schluss vielleicht noch eine negative Definition: Es handelt sich bei der Kreativität nicht, wie man vielleicht früher angenommen haben mochte, um eine rätselhafte Eingebung, einen Geistesblitz aus dem Nichts oder eine Inspiration im eigentlichen Wortsinn.
Wir haben es vielmehr mit einem Prozess zu tun, der analysierbar und in gewissem Maße sogar optimierbar ist. Ein Werkzeug, eine Methode – kein Hexenwerk, keine Magie.
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Im Folgenden wollen wir uns – der Einfachheit halber – mit der Kreativität im künstlerischen Bereich beschäftigen und dabei auf zwei Aspekte genauer eingehen: nämlich das Verhältnis von Kreativität zu a) Mainstream und b) KI.
Kreativität und Mainstream
Kreativität wird gern als die treibende Kraft der Kunstszene glorifiziert, eigentlich aber hat der Mainstream kein besonders positives Verhältnis zu echter Kreativität. Die Masse liebt, was bekannt ist. Dementsprechend lieben Verlage, Plattenfirmen, Publisher oder Veranstalter, sogenannte “Kunst”, die niemanden überrascht, geschweige denn herausfordert.
Nehmen wir Popmusik als Beispiel. Die meisten Chart-Hits folgen einem Rezept: eingängige Hooks, vorhersehbare Strukturen (Intro, Strophe, Refrain, Strophe, Refrain, Bridge, Refrain, Fadeout) und Texte, die banal sind – oder so kryptisch, dass sich niemand daran stört.

Mainstream lebt von Wiederholung, nicht von Erfindung. Selbst erfolgreiche Experimente, die anfangs als revolutionär wahrgenommen werden, sind bald darauf vollständig kommerzialisiert. Was als Mittelfinger gegen den Status quo beginnt und gut ankommt, endet in Merch-Shops. Der Mainstream hat ein Talent dafür, Provokation in Harmloses zu verwandeln.
Klar, es gibt Ausnahmen. Manche Künstler schaffen es, auch innerhalb der Grenzen des Mainstreams über lange Zeiträume hinweg etwas Eigensinniges zu machen. Doch der Druck, sich anzupassen, ist gewaltig. Wer wirklich kreativ sein will, muss sich permanent gegen den Strom stellen – das ist nichts für Feiglinge. Das ist nur etwas für echte Künstler.
Wenn ihr also danach strebt, der Allgemeinheit zu gefallen und Massen von Lesern, Hörern etc. zu finden, müsst ihr euch sehr wahrscheinlich von euren Ambitionen hinsichtlich kreativer Ideen und aufrüttelnder Aussagen verabschieden. Schema F ist angesagt. Handwerk statt Kunst. Tja, viel Spaß …
Kreativität und künstliche Intelligenz
In diesem Artikel muss natürlich auch sie diskutiert werden: die künstliche Intelligenz. Für die einen die persönliche Muse, für die anderen der Totengräber der Kreativität. Das Ende der Kunst oder der Anfang einer neuen, hyperkreativen Ära, in der jeder seine Visionen umsetzen kann.
Tja, was stimmt denn nun? Ich sehe das etwas differenzierter als die meisten, glaube ich. Ich denke, dass KI als Werkzeug dienen sollte, nicht mehr und nicht weniger.

Ein Vergleich hilft vielleicht: Wenn man ein Large Language Model – sagen wir mal: ChatGPT –, als Werkzeug benutzt, wie ich mir das vorstelle, dann ist das ungefähr so, als wäre man ein Bildhauer, der einen Marmorblock bearbeitet, der bereits die grobe Form dessen hat, was am Ende herauskommen soll. Der Umriss ist also da, die groben Züge vielleicht auch schon. Aber die Idee, das Meißeln, das Polieren? Das bleibt am Ende am Künstler hängen. Und das ist richtig so.
Oder anders ausgedrückt: Es gibt einen Kern der künstlerischen Arbeit und es gibt viel Drumherum, das nur Zeit und Energie kostet und nicht wirklich etwas mit dem zu tun hat, woran der Künstler a) Freude hat, worin er b) eigentlich talentiert ist und was c) einen tatsächlichen Einfluss auf das Ergebnis hat.
Noch zwei Gedanken dazu:
Die Geschichte wiederholt sich
Ich finde, der Vergleich mit der Malerei zur Zeit der Erfindung der Fotografie liegt nahe. Damals hieß es auch, die Malerei sei tot. Warum, fragte man, sollte man noch malen, wenn man fotografieren kann?
Was passierte?
Die Malerei ging neue Wege – Impressionismus, Expressionismus, Abstraktion. Weil sie es musste, klar. Aber: Auch heute wissen wir es zu schätzen, wenn jemand malen kann. Oder fotografieren – egal. Die Kunstformen bestehen nebeneinander.
Ähnlich ist es heute mit KI-assistierter Kunst. Vielleicht zwingt sie uns einfach, unsere Vorstellung von Kreativität radikal zu überdenken – weg vom Handwerklichen, hin zum Konzeptuellen. Ein wenig weg vom Machen, vom Mühen, ein wenig hin zum Denken, zum Grübeln. Eben zum eigentlich Kreativen, wie ich behaupten würde. Zur Umsetzung der Vision, ohne Ablenkungen. Weniger “aspera”, mehr “astra”.
Künstler haben doch sowieso viel Hilfe
Wenn man die Verwendung von KI als “Cheating” bezeichnet, stellt sich mir die Frage, warum denn nicht alle anderen Formen von Hilfsmitteln und Hilfe verdammt werden.
- Warum darf ich Google nutzen, statt für die Recherche in die Bibliothek zu gehen? Ich sollte Bibliotheken doch unterstützen.
- Warum darf ich in einem Wörterbuch mögliche Synonyme nachschlagen, mir diese aber nicht einfach von ChatGPT auflisten lassen? Wird ein etablierter Künstler in euren Augen wirklich weniger Künstler, wenn er so etwas tut?
- Automatische Rechtschreib- und Grammatikprüfung? Das kommt mir auch problematisch vor.
- Warum darf ich Betaleser um Feedback bitten und dieses umsetzen? Das sind dann auch nicht meine Ideen.
- Darf ich für Illustrationen meines Romans KI verwenden? Ich bin schließlich Autor, kein Zeichner. Die Alternative zu KI-Illustrationen sind aufgrund meines Budgets nicht etwa Auftragsarbeiten, sondern einfach keine Illustrationen. Wem soll das nützen?
- Warum darf ich unter Alkoholeinfluss schreiben? Auch das sind, könnte man sagen, nicht wirklich meine Ideen. Ganz zu schweigen von anderen Mitteln … – oder vielleicht ist, in die andere Richtung gedacht, auch Koffein nicht legitim?
- Am PC schreiben ist okay, ja? Oder lieber eine Schreibmaschine? Oder muss es der Füller, ach was, die Feder sein und – ja, Papyrus idealerweise?
- Darf ich Noten in Guitar Pro notieren, also digital? Oder habe ich gefälligst Papier zu benutzen und über jeden Strich nachzudenken, damit ich auch ja keinen Fehler mache und die Seite neu schreiben muss?
- Warum darf ich ein Keyboard oder eine Sound-Library verwenden anstelle echter Musiker und echter Instrumente?
- Dürfen Gesangsaufnahmen nachbearbeitet werden? Wenn ja, nur durch Menschen? Wenn wiederum ja, warum? Ist Tontechnik auch eine schützenswerte Kunst? Was ist dann mit Nicht-KI-Funktionen in Audioprogrammen, die es auch Laien ermöglichen, Aufnahmen mit wenigen Klicks zu optimieren?
- Warum darf ein Fotograf Fotos nachbearbeiten, statt bereits beim Shooting für das richtige Licht zu sorgen? Auch das zählt doch zum Skillset des Fotografen – oder ist das doch gar nicht so wichtig?
- Warum werden Pixar-Animationsfilme gefeiert, die doch tatsächlich Zeichentrick ein gutes Stück verdrängt haben?
- Was ist mit Greenscreen? Ist das wirklich okay? Es gäbe doch Bühnenbildner, die viele der Kulissen auch in Handarbeit herstellen könnten, nicht?
- Darf ich als Game Designer vorgefertigte Assets verwenden? Wenn ja, wieso spielt es eine Rolle, ob die von irgendeinem indonesischen Typen erstellt wurden, den ich nicht kenne, oder von einem KI-Tool? Hey, vielleicht ist der indonesische Typ, der Assets erstellt, ja privat irgendwie keine ganz so tolle Person – wäre ChatGPT in dem Fall vorzuziehen? Unterstütze ich lieber Menschen, egal, um was für Menschen es sich handelt?
Mir würden sicher noch mehr Fragen einfallen – mir oder ChatGPT –, aber ich höre hier auf. Ihr habt verstanden, worum es geht. Ich hoffe jedenfalls, diese Fragen zeigen ein wenig die Inkonsistenz der Anti-KI-Haltung und regen dazu an, noch einmal darüber nachzudenken, wo die eigenen Grenzen beim Einsatz der Technologie liegen.
Mehr Kreativität! Weniger Einschränkungen!
Zum Abschluss ein Plädoyer. An meine “Künstlerkollegen”.
Wollen wir wirklich nur wiederholen, was schon da war, weil es gut ankommt? Oder trauen wir uns, wirklich Neues zu wagen – auch auf die Gefahr hin, dass unser Werk, in das viel Arbeit fließt, ein Nischendasein fristet?
Ich sage: Letzteres! Kreativität ist kein Buzzword für Social Media oder die Website. Kreativität ist unser Auftrag.

Sicher, der Druck ist real, der Algorithmus liebt das Vertraute – und die meisten Verlage, Plattenfirmen, Publisher etc. tun das ebenfalls. Wer aus der Reihe tanzt, könnte überlesen, überhört, übersehen werden. Aber genau das macht kreative Arbeit aus: nicht nur zu bedienen, was erwartet wird, sondern Erwartungen auch ganz bewusst zu brechen. Ja, auch, zu provozieren.
Das ist gleichzeitig Risiko und Chance.
Und wenn KI dabei helfen kann – warum nicht? Wer sie sinnvoll nutzt, verrät die Kunst nicht, sondern erweitert einfach nur seinen Werkzeugkasten, erhöht seine Effizienz und damit potenziell seinen Output. Das sollten auch die Fans gut finden, nicht?

Am Ende zählt doch nicht, wie etwas entstanden ist, sondern was es beim Gegenüber auslöst. Wenn sich dein brillantes Konzept durch KI besser umsetzen lässt – schneller, einfacher, effektiver –, wenn die Technologie hilft, deine Botschaft klarer zu vermitteln, deine Ideen ohne Kompromisse umzusetzen, wenn sie dir neue Möglichkeiten eröffnet, auf die du sonst verzichten müsstest – weil es außerhalb deiner Expertise und/oder deines Budgets liegt –, dann wäre es ein Fehler, aus idealistischen (lies: dogmatischen) Gründen einer immer weiter wachsenden Kategorie von Tools komplett abzuschwören.
Hör auf, dich an Formate und Genres zu klammern, die dich eigentlich langweilen, und lass dich nicht davon abhalten, deine Visionen zu verwirklichen, nur weil es ein wenig Kritik an den Mitteln gibt, die du dazu einsetzen müsstest.
Solche Engstirnigkeit passt nicht zu einem Künstler. Und das hat auch nichts mit Kreativität zu tun, im Gegenteil. Ein kreativer Geist muss immer offen sein für alle möglichen neuen Ansätze.
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Wie definiert ihr Kreativität? Habt ihr ein Beispiel für ein künstlerisches Werk, das ihr besonders kreativ findet? Was hilft euch dabei, selbst kreativ zu sein?